Staat, hilf!
Neulich hatte ich in Göttingen zu tun. Von Göttingen weiß ich nicht viel. Es gibt da eine gut beleumundete Hochschule samt Uni-Klinik, die Innenstadt ist hübsch anzusehen und in den Semesterferien ist nicht viel los, da die Studenten die Eingeborenen dann in ihrer Puppenstube sich selbst überlassen. Ich stieg dort aus dem Zug, nahm das erste Taxi, das vorm Bahnhof wartete und befand mich mitten im Elend: “Wo ist denn das?” quittierte der Fahrer meine Adressansage. Dass ich leicht unwirsch reagierte und ihm wenig charmant zu verstehen gab, dass ich der Ansicht war, die Ortskenntnis sei sein Part unserer geschäftlichen Verbindung, fand er unverständlich.
Vor wenigen Tagen musste ich zu absurd früher Stunde einen Intercity in eine nordostdeutsche Kleinstadt nehmen. Um 5.55 Uhr sollte es an meinem Hauptbahnhof losgehen. Zehn nach sechs rollte der Zug an, meine Anschlüsse gerieten in ernste Gefahr. Nach dem Einsteigen wähnte ich mich inmitten eines Flüchtlingstrecks: In den Abteilen schliefen Leute, die aussahen, als seien sie einer feindlichen Armee aus Richtung Westen gerade so eben entkommen. Dass es in einem Zug voller Schläfer mäßig angenehm riecht, versteht sich. Für uns Zugestiegene war natürlich nirgends Platz in dieser rollenden Notunterkunft. Arbeiten, wie ich das eigentlich geplant hatte, konnte ich während der Reise also auch vergessen. Ich war bedient und fragte den Schaffner nach dem Speisewagen: “Ham wa nicht, einen schönen juten Morgen erstma!” Gut, dass ich nicht stehend bis nach Mainz musste, sondern in Hamburg umsteigen drufte. Gut für ihn und gut für mich.
Große Dienstleistungsdramen bekommen wir an jeder Ecke geboten. Hotels, Restaurants, Paketzusteller, Einwohnermeldeämter — sie alle haben ihre kleinen Tricks und Kniffe, um uns in die Verzweiflung zu treiben. Die einen tragen ihr Repertoire mit großer Geschicklichkeit vor und quälen uns besonders genüsslich — denken Sie nur an die Kassenschlangen im Supermarkt, während zwei Mitarbeiter des Instituts drei Regale entfernt einen Schwatz halten. Andere präsentieren ihre Service-Unfertigkeiten mehr so en passant, wie zum Beispiel der Paketbote, der einen mehrere hundert Euro teuren Elektroartikel samt Herstellerlogo auf dem Karton im Windfang unseres Großstadthauses abwirft. Greifen Sie doch einfach zu!
Führend im Verachten von Kunden ist jedoch eine Branche, auf die jeder angewiesen ist. Alle, wirklich ausnahmslos alle Telefongesellschaften, quälen ihre Kunden, wenn mal irgendwas nicht geht, sei es mit dem Mobiltelefon, dem Festnetzanschluss oder wenn das Internet mal ne Macke hat. Das ist zwar extrem selten. Aber wenn, dann ist auf eins Verlass: Es warten die schlimmsten vorstellbaren Prüfungen unserer Zeit auf diejenigen, die doch nur wieder gerne telefonieren oder surfen möchten.
Die Ouvertüre solcher Dramen bildet meist eine Computerstimme, die einen auffordert, das Problem zu schildern. “Ich habe Sie leider nicht verstanden”, scheppert es nach mehreren Versuchen. Es folgt die Überweisung an einen Menschen. Bis dahin — und wir reden nicht von ein paar Sekunden — muss allerdings noch irgendeine Techno-Schwachsinnsmucke ertragen werden, die alle paar Sekunden durch “der nächste freie Mitarbeiter ist gleich für Sie da” unterbrochen wird. Meistens haben wir es nun mit freundlichen und durchaus hilfsbereiten Menschen zu tun, die nur leider wenig bis gar keine Möglichkeiten haben, unsere Probleme zu beheben. Die Bahn könnte ja ihre Züge verlängern, Taxifahrer könnten einfach ihren Stadtplan auswendig lernen. Die Leute, die für Vodafone & Co. in Call-Centern sitzen, haben wahrscheinlich keine Karten. Sie sind in einem Chaos, das nicht kartograpiert werden kann.
Und offenbar sind diese Leute in der ersten Kundenabwehrreihe nur für Deppen zuständig, die den Ein- und Auschaltknopf ihrer Geräte nicht finden können. Geht es um Defekte und Fehler im Machtbereich des Anbieters, sind sie inkompetent: “Da muss ein Techniker ran”, heißt es dann. “Wie lange kann das dauern?” fragen wir und hören, dass man das leider nicht sagen könne. Macht ja nix. Wer braucht 2013 schon permanent seinen Internet- oder Telefonanschluss? Diese Techniker wohnen übrigens in Hochsicherheitstrakten mit kaputten Telefonen. Man kann sie nicht direkt anrufen, jedenfalls nicht von außen. Verschärft sich nun beispielsweise unser Problem oder fällt uns noch ein weiteres womöglich wichtiges Detail auf, so müssen wir wieder von vorne beginnen — Computerstimme, Schwachsinnsmucke und dann ein anderer freundlicher aber ebenso inkompetenter Abwehrspieler. Dem können wir dann unser ganzes Problem noch einmal von vorne schildern, da niemand es für nötig hielt, unseren ersten Kontakt im System zusammenzufassen – so was ist wahrscheinlich nicht standardisiert vorgesehen.
Ich habe mir für solche Hotline-Anrufe mittlerweile eine salvatorische Klausel zurechtgelegt: “Meine Unhöflichkeit gilt nicht Ihnen, sondern den Strukturen, in denen Sie da arbeiten müssen. Verzeihen Sie mir!” Es ist schon vorgekommen, dass jemand am anderen Ende der Leitung sagte: “Ich verstehe Sie!” Regelmäßig treiben mich solche Abläufe in die Verzweiflung. Und verzweifelte Menschen sind zu allem fähig. Es gibt wenig Situationen, die für alle Beteiligten derart entwürdigend sind. Die auf der einen Seite sind hilflos, weil sie kein Internet haben, die auf der anderen Seite sind hilflos, weil sie das Problem nur weiterleiten können. Meine Wutanfälle sind mir nach diesen Gesprächen öfter peinlich. Es hat mir sehr geholfen, dass auch die besonnensten meiner Freunde ähnliche Erlebnisse auf Lager haben.
So wie auch fast jeder Telefonanschlussinhaber die immer gleiche mehr oder weniger lustige Geschichte vom Anschlusstag erzählen kann. Die Schaltung eines Telefonanschluss ist nämlich ein Vorgang, der immense volkswirtschaftliche Kräfte bindet. Es muss nicht nur ein Techniker der Telekom zu einem Schaltkasten fahren, der Kunde selbst muss einen Tag Urlaub nehmen, da er in einem Zeitfenster — nein, es ist ein Scheunentor — unzähliger Stunden zuhause zu sein hat. Nicht selten ist auch die Variante der Geschichte, dass niemand kam – dann führt kein Weg daran vorbei, einen weiteren Urlaubstag zu opfern. Die Telekom — und nur die kann auch die Kunden aller anderen Gesellschaften anschließen — öffnet das nächste Zeit”fenster”.
Es kann nun sein, dass die Vorstände unseres Telefonoligopols allesamt Sadisten sind, die sich dahingehend abgesprochen haben, uns mit ihrer Serviceperformance besondere Schmerzen und Qualen zuzufügen. Wie soll ein Kartellamt das nachweisen? Oder ist womöglich deshalb keiner von ihnen auf die Idee gekommen, einen exzellenten Service anzubieten, weil wir Kunden hier draußen das so wollen? Weil wir den Telefonmarkt ausschließlich nach Preisgesichtspunkten abgrasen und beim billigsten Anbieter zuschlagen? Es ist mir völlig egal. Ich bin sonst radikalliberal. Aber hier liegt Marktversagen vor. Es wird Zeit, dass die Serviceleistungen der Telefonanbieter gesetzlich vorgeschrieben werden. Staat, hilf! Wie gesagt: Verzweifelte sind zu allem fähig… Jan-Philipp Hein
Zuerst erschienen im SH:Z am 20. August 2013